Reisen: Wortklang, Geschwindigkeit und Währung

Der Wunsch zu reisen hat mit dem Klang von Wörtern zu tun. Auf einer Kinderschallplatte hörte ich jemanden das Wort „Syrakus“ aussprechen und konnte das Geheimnis darin in allen Fasern meines Körpers spüren. Später überlief mich ein wohliger Schauer, wenn am Bahnhof meiner Heimatstadt ein Zug „mit Kurswagen nach Sestri Levante“ angekündigt wurde, und das Wort „Ivalo“ in einem deutschen Chanson weckte mein Interesse so sehr, dass mir gleichgültig war, ob ich das Lied gelungen fand oder nicht. In solchen Momenten wurden mir Reiseziele implantiert, die mir ungeheuer verheißungsvoll vorkamen. Reisen kann der Wunsch sein, die Magie eines Wortes als Wirklichkeit am eigenen Leib zu erfahren. Welcher Wortklang besonders lockt, mag individuell verschieden sein, doch manche Namen ziehen heute so viele Menschen an, dass diese sich in Instagram-Lemminge verwandeln und an den Orten hinter den klangvollen Namen für das Phänomen Übertourismus sorgen, dessen Transformationskraft es fertigbringt, tausend Jahre alte Städte innerhalb kürzester Zeit umzustrukturieren.

Menschen hängen dem magischen Glauben an, sie könnten Sphären bereisen, die automatisch glücklich machen. Sie setzen darauf, dass sich Schönheit erfliegen, also erwerben lässt. Manche Reisende mögen das Abenteuer oder die Irritation der Begegnung mit dem Fremden suchen, aber alle wollen der Schönheit begegnen, ob sie sich diese nun als stimulierende, belohnende, beruhigende oder gar heilende versprechen und unabhängig davon, ob sie in Menschen, Bauwerken oder Landschaften danach suchen.

Nun lässt sich nicht mehr leugnen, dass die Welt, deren Schönheit ich erreisen will, unter meinem Reisen leidet. Nehmen wir die Fakten ernst, müssen wir zugeben, dass sich bei der globalen Klimalage das Fliegen eigentlich verbietet. Das ist nicht leicht zu akzeptieren, denn wir verstehen uns längst ganz selbstverständlich als fliegende Wesen.

Letztes Jahr zeigte die Kinoreklame einer Billigfluggesellschaft einen jungen Mann durch eine ganz und gar unschöne graue, diffus-urbane, menschenleere Kulisse steigen, ernst in die Ferne blicken und feierlich Moleskine-Notizen machen. Dazu hörte man ihn aus dem Off sagen, er fliege gern an Orte, wo nicht jeder hinfliege, wo er ein Abenteuer erleben könne. Die Vorstellung, sich für den Preis eines Flugtickets ein Abenteuer kaufen zu können, klang ridikül, und kurios nahm sich der Versuch aus, reizlose Destinationen durch die Abenteuerverheißung attraktiv zu machen, aber auf den zweiten Blick ist vielleicht doch etwas daran. Peter Handke sagte, wer ein Abenteuer erleben wolle, müsse einfach zu Fuß von einem beliebigen Flughafen in die nächste Innenstadt gehen. Da habe man etliches zu bewältigen. Nach ersten Feldversuchen gebe ich ihm recht. Man kommt sich vor wie in der Kindergeschichte von Peter Bichsel, in der sich die Absicht, einfach immer geradeaus zu gehen als gigantische Herausforderung erweist. Das Abenteuer, so scheint es, lässt sich durchaus klimaneutral erleben, man muss dafür lediglich die Geschwindigkeit des Reisens reduzieren. Aber was ist mit der Schönheit der Landschaft, der Schönheit der Kultur?

Ich muss an Johann Gottfried Seume denken, der sich im Jahr 1805 auf seiner Reise durch Russland, Finnland und Schweden gezwungen sah, gelegentlich eine Kutsche in Anspruch zu nehmen und hernach feststellte, diese Art des Reisens sei viel zu schnell, um alle Eindrücke aufzunehmen. Gehen, entschied er, sei das einzig Wahre, und er wusste, wovon er sprach, schließlich konnte er auf die Erfahrung eines 7000 km langen Spazierganges nach Syrakus verweisen.

Syrakus – als mir das Wort viele Jahre nach der Erstbegegnung per Schallplatte im Bericht von Seume über seine Wanderung gen Süden in den Jahren 1801/02 erneut mit glänzendem Klang begegnete, kam mir das wie die Ermunterung vor, die Reise selbst in Angriff zu nehmen. Habe ich es getan? Nun, ich warte auf den richtigen Moment. Wohl weil ich ahne, dass für Syrakus nur eine Reiseform in Betracht kommt. Die mag bald wieder die wahrhaft zeitgemäße sein, aber sie nimmt Zeit in Anspruch. Sie kostet das, was bis zur Erfindung der Dampfmaschine die eigentliche Währung des Reisens war.

Stefan Moster

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