Hmmmmm …

Wenn man etwas über Musik erfahren will – ist es da sinnvoll, ausgerechnet Leute zum Gespräch einzuladen, die vor allem mit Sprache arbeiten? Ist die zwangsläufig mit Inhalten arbeitende Literatur nicht geradezu das Gegenteil der Musik, jener absoluten Form ohne semantischen Inhalt, die der modernen Lyrik immer wieder als utopisches Ideal der Befreiung von den Begrenzungen durch die Sprache vor Augen stand?

Diese Entgegensetzung vermag nur auf den ersten Blick über die Gemeinsamkeiten von Musik und Literatur hinwegzutäuschen. Der britische Archäologe Steven Mithen vertritt die Theorie, dass Sprache und Musik zwei Kommunikationsformen seien, die sich aus einem gemeinsamen Vorgängersystem entwickelt haben, das er „Hmmmmm“ nennt. Das ist nicht nur Lautmalerei, sondern auch eine Abkürzung für „holistisch, manipulativ, multi-modal, musikalisch, mimetisch“. Diese Proto-Sprache aus verschiedenen Lautäußerungen mit komplexer Bedeutung habe sich im Lauf der kognitiven Entwicklung des Menschen dann in Sprache und Musik ausdifferenziert. Aus evolutionärer Sicht wären Sprache und Musik also sozusagen Geschwister.

Aber man muss gar nicht ganz so weit ins Dunkel der Vorgeschichte tauchen, um die Affinitäten von Literatur und Musik auszumachen. Ihre zentrale strukturelle Gemeinsamkeit ist, dass beide zeitbasierte Künste sind. Einen literarischen Text erleben wir wie einen Film, eine Bühnenperformance oder ein Musikstück zwangsläufig als zeitlichen Ablauf, wir können ihn nicht räumlich erfassen wie ein Bild oder eine Skulptur. Und das gilt nicht nur beim vorgetragenen Text. Auch wenn die solide materielle Objekthaftigkeit des gedruckten Buches (oder des E-Book-Readers) bei flüchtiger Betrachtung darüber hinwegtäuscht: Das Lesen des Buches ist ein Vorgang, der in der Zeit abläuft. Und der kann unser Zeitempfinden gravierend verändern – das wissen alle, die schon einmal von einem Buch so gefesselt waren, dass sie die Zeit vergessen haben. Diese ästhetische Erfahrung können wir auch beim Hören von Musik machen.

Daraus ergibt sich, dass beim Schaffen von Musik und Literatur durchaus ähnliche produktionsästhetische Fragen auftreten können – nämlich immer dann, wenn es um das weite Feld von Timing und Rhythmus geht. Nicht zuletzt kommt es in der Literatur (und zwar nicht nur, wenn sie für den Vortrag gedacht ist) auch darauf an, wie Worte klingen.

Wo die Berührungspunkte genau liegen und wie nahe sich Literatur und Musik an welcher Stelle kommen, hängt dabei immer auch davon ab, von welcher Warte, welcher spezifischen Praxis man zur jeweils anderen Kunstform hinüberblickt. Eine sehr rhythmische, klanglich geprägte Lyrik (der Reim beispielsweise ist ja ein Klangphänomen) wird aus der Musik vielleicht andere Inspirationen ziehen als ein Roman. Umgekehrt wird jemand, der instrumentale Musik komponiert, andere Fragen an Literatur stellen als jemand, der einen Popsong schreiben will. Denn Pop-Musik ist ja nie nur Musik, sondern immer ein Verbund verschiedener Medien, nicht zuletzt durch ihre Texte.

Es scheint also doch durchaus sinnvoll, Schriftstellerinnen und Schriftsteller einzuladen, um etwas über Musik zu erfahren. Aber jede literarische und musikalische Ästhetik, ja jedes einzelne Werk wird seine ganz eigene Sichtweise auf die „andere Seite“ eröffnen. Da wird es einiges zu besprechen geben. Aber dafür sind wir ja hier.

„Bereits mit viereinhalb Monaten ist der Fötus in der Lage, auf akustische Reize zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung des Ohrs in anatomischer Hinsicht abgeschlossen, und der Hörnerv beginnt seine Funktion aufzunehmen. Der Fötus hört die Stimme seiner Mutter, ihr Atmen, die Geräusche ihres Blutkreislaufs und ihrer Darmtätigkeit. Von fern vernimmt er die Stimmen seines Vaters, seiner Geschwister, sowie angenehme und störende Geräusche, die Mitteilungen von außen sind und auf die er reagiert.“ (Christoph Wulf, Eintrag „Ohr“ in „Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie“, 1997)
 

DRONE (also Bezug zu meiner eigenen Praxis)
In Musik kann man so intensiv wie nirgends sonst, weil direkt im Körper und noch unterhalb der sprachlichen Ebene – aber schon para-sprachlich, erleben, was menschliche Subjektivität und Intentionalität ausmacht ­ aber auch, wie idealerweise bei Sex, wie man sozusagen über diese Subjektivität hinauskommt – in „nicht-intentionalen“ Formen wie Drone und Pulse, Techno oder „primitivem“ Rock - „sie folgen diesen … aus der Subjektivität ausgestiegenen Elementarteilchen der Lebendigkeit: den reinen Nervenreizen, Erregungen, Zuckungen, Dringlichkeiten. Dem reinen Akzent, der reinen Betonung, dem Rock – dass und wie dies eine Nähe zu … Drone hat, würde hier wohl zu weit führen: 'We Will Fall' von der ersten LP der Stooges wäre aber schon ein Beispiel für eine solche Konvergenz. (Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik)

Man kann sich das Verhältnis von Musik und Sprache aber auch so vorstellen: Musik ist die Kunst, die uns im Körper am existenziellsten berührt – und uns deshalb dazu bringt, immer und immer wieder von dieser intensiven Erfahrung zu sprechen:
„Vielleicht sollte man sich den guten Hörer als einen vorstellen, der Musik wie zum erstenmal hört und der sich deshalb aufs neue vor die Frage gestellt sieht: 'Was ist das?' Dann wird auch deutlich, daß die Musik erst durch die sich einmischende Rede wird, was sie ist, daß sie niemals in den Werken schon fertig da ist, sondern in der Interpretation im dreifachen Sinne der klanglichen Realisierung, des Hörens und der sprachlichen Artikulation immer wieder erst hervorgebracht wird.“ (Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 120)

Musik/Sound Art kann zwischen den Referenzsystemen wechseln, kann zwischen semantisch und rein intensiv switchen – ist also sozusagen „mobiler“ als Literatur:
„Ich gehe … davon aus, dass Musik und Klangkunst sektorenweise wie Sprache funktionieren, dann wieder nicht. Ich denke, dass es höchst interessante Arbeiten der Sonic Art gibt in der zeitweise Außermusikalisches repräsentiert wird, dass aber in den selben Kompositionen zu anderen Zeitpunkten abstraktes Material ohne bestimmbare Referenz vorliegt. … An den Kipppunkten eines Referenzsystemes in das andere setzt die musikalische Kommunikation nicht schlagartig aus, um neuen Grund zu finden. An diesen Kipppunkten entsteht gerade Bedeutung. Das sind die musikalischen Momente, in denen der Komponist oder die Komponistin die stärksten Momente musikalischer Bedeutung erzeugen.“ (Mathias Fuchs, Sinn und Sound, S. 248 f.)
Diederichsen über den performenden Dichter:
„Diese rituelle Formel des Pop-Auftrittes hat in der Tat eine ihrer Wurzeln in der Konvergenz von Sänger und Songwriter, Performer und Performtem, eine in Musik, Theater und Kino bisher einmalige Konvergenz, die es sonst nur in den Künsten gabe, die wiederum nicht performativ waren: Malerei, Skulptur, Literatur. … [Das „Ich“ gab es in den klassischen darstellenden Künsten nur als Rolle, nicht als Vertreter seiner selbst.] (Ein zeitgleich auftauchender Vorläufer oder Kamerad des Pop-Musikers ist deshalb der performende Dichter der Beat-Kultur und dessen Zeitgenosse und Nachfahre bis zur Slam Poetry.) (S. 142 f.)

Gerald Fiebig

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