Und bist du nicht willig

Die Innsbrucker Wochenendgespräche stellen, wie es im Programmtext heisst, eine alte Frage: "Soll die Literatur - oder, weiter gefasst, die Kunst - ihre Stimme in einem politischen Sinne erheben?"

Ich möchte im Folgenden kurz skizzieren, warum mir diese Frage Angst macht.

Was mir zuerst auffällt, ist der allgemeine Charakter dieser Frage. "Die Literatur" ist ein Abstraktum, das in der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Überflüssig zu erwähnen, dass "die Kunst" ebenso abstrakt und weitläufig und in fünftausend Jahren Zivilisationsgeschichte nicht eine Begegnung mit ihr, nicht eine Sichtung bezeugt ist. Man hat Maler gesehen, Bildhauer, Skulpturen, Farben, Geigen und Fotografien, ja, aber niemals "die Kunst".

Wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht genau sagen, was die Frage unter "Literatur" subsummiert, aber das müsste ich, wenn ich auf die Frage eine Antwort geben möchte.

Nun wird niemand wird die Notwendigkeit von Abstrakta bestreiten. Für eine sinnvolle Kommunikation sind sie unerlässlich. Man stelle sich vor, der deutschen Sprache würde ein Wort wie "der Urlaub" fehlen. Dann müsste ein Mann zu seiner Frau sagen: "In den beiden Wochen, in denen ich nicht arbeiten muss, und die der Erholung dienen, möchte ich dieses Jahr gerne nach Italien fahren." Das würde die Sprache beschweren, verkomplizieren.

Scharfsinnige werden einwenden, dass auch "die Woche", "die Erholung" "das Jahr" und natürlich auch "Italien" in der Wirklichkeit nicht zu finden sind und im Grunde jeder Begriff, die Sprache als solche, ein Abstraktum ist. Dieser Einwand ist berechtigt und macht es notwendig, die Abstrakta noch einmal zu unterscheiden in Kategorien und Ideale und danach zu fragen, in welcher Funktion "die Literatur" in dieser Frage gebraucht wird.

"Wahrheit" wäre ein Ideal, ein Abstraktum, das in keine konkreten Teilbegriffe zerfällt und nie, oder nur bei Gott, in reiner Form, sondern nur in Annäherungen existiert.

Das trifft auf "Literatur" ganz gewiss nicht zu. "Literatur" zerfällt in Teilbegriffe. "Der Schriftsteller" gehört bestimmt dazu, ebenso "der Roman", "das Gedicht". "Literatur" scheint also eine Kategorie zu sein, wie etwa "Mode", die so verschiedene Erscheinungen wie Schuhe, Farbtöne und Designer einschliesst.

Richtet sich nun die eingangs gestellte Frage an sämtliche Begriffe, die unter die Kategorie "Literatur" fallen? Um das zu überprüfen, kann man "Literatur" versuchsweise mit "Roman", oder noch besser, mit einem ganz bestimmten Roman ersetzen, wenn Sie erlauben, mit meinem jüngst erschienenen Roman "Hagard".

Also: "Soll der Roman "Hagard" seine Stimme in einem politischen Sinne erheben?" Diese Frage ist absurd. Ein Buch hat keine Stimme.  Falls man "die Stimme" figurativ, in einem übertragenen Sinne versteht, dann ergibt die Frage nur dann einen Sinn, wenn man sie einem Buch stellt, das noch nicht geschrieben ist: "Soll dieses Buch, das noch nicht geschrieben ist, seine Stimme in einem politischen Sinne erheben?"

Wer aber könnte nun der Adressat dieser Frage sein? Natürlich nur der Schriftsteller? Die Frage muss also lauten: "Soll der Schriftsteller Lukas Bärfuss mit seinem nächsten Buch seine Stimme in einem politischen Sinne erheben?" Und natürlich kann "Lukas Bärfuss" durch den Namen eines beliebigen Schriftstellers ersetzen, der sich anschickt, ein Buch zu schreiben.

Jetzt wird klar, woher meine Beklemmung kommt. Ich höre in dieser Frage deutlich den Behördenton, die Stimme eines Tribunals. Denn in diesem "Soll" steckt die Ankündigung einer normativen Vorgabe. Ein Gebot wird erlassen werden, ganz einerlei, wie die Antwort ausfallen mag. Denn was wird mit Lukas Bärfuss geschehen, falls er der Forderung, der normativen Setzung, dem Gebot "du sollst", nicht gehorcht? Wenn er sich nicht um die Antwort kümmert, im Falle eines Neins trotzdem "in einem politischen Sinne die Stimme erhebt", im Fall eines Ja es eben nicht tut? Soll man seinen Roman ignorieren, boykottieren oder sogar verbieten?

Es würde mich freuen, wenn wir in Innsbruck darüber reden könnten, warum man glaubt, den Schriftstellern drohen zu müssen, was man sich davon erhofft, und warum man sich gleichzeitig genötigt fühlt, diese Drohung hinter dem  Abstraktum "die Literatur" zu verstecken.

Lukas Bärfuss

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