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Literatur und Politik
Ein kursorischer Rückblick auf höchst aktuelle 40. Innsbrucker Wochenendgespräche
von Joe Rabl

Es war ein denkwürdiges Wochenende für die österreichische Innenpolitik, das mit dem Rücktritt des Hesse zitierenden Vizekanzlers begann und einen als Hoffnungsträger hochgejubelten Karrieristen in die erste Reihe treten ließ, der prompt die Gunst der Stunde nutzte und jener Partei, die ihn groß gemacht hatte, historische Zugeständnisse abpresste, worauf diese ihre Demontage auch noch als Erfolg zu verkaufen suchte.

Dass sich just an diesem Wochenende zehn Autorinnen und Autoren in Innsbruck trafen, um über Politik und die vielfältigen Verbindungen zur Literatur respektive die politischen Implikationen von Literatur zu diskutieren, war nichts weiter als ein schöner Zufall, zeigte aber auch, wie eine zeitlose Gesprächsreihe plötzlich höchst aktuell sein kann. Und so kreisten die Gespräche auch zwischen den beiden Lesungen und den vier Diskussionsrunden meist um das Thema (österreichische Innen-)Politik und den Versuch, den Stand der Dinge einzuschätzen.

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Literatur sei ein interessantes Medium, sagt Marion Poschmann, um Dingen auf die Spur zu kommen; manchmal seien aber, kontextabhängig, auch andere Formen sinnvoll. Poschmann verweist auf Swetlana Alexijewitsch und ihre dokumentarische Montageliteratur, was eine Diskussion über den Begriff „Gebrauchsliteratur“ zur Folge hatte. In der Literatur jedenfalls lasse sich eine andere Wirklichkeit finden; und wer am Donnerstagabend die wunderbaren Gedichte von Marion Poschmann gehört hat, hat den besten Eindruck davon bekommen, wie den Dingen mithilfe der Poesie auf die Spur zu kommen ist.

„Wenn es in der Gesellschaft geistige Freiräume geben soll, dann muß diese auch jemand beanspruchen und ausfüllen und nach Möglichkeit ausweiten.“ (Marion Poschmann)

Aber braucht die Politik die Literatur? Bestenfalls als Deckmantel, meint Evelyn Schlag. Und Josef Haslinger erinnert daran, dass es früher anders war, dass es eine Zeit gab, in der die Politik die Nähe von Autoren suchte. Dabei könnte Literatur Wichtiges beitragen, sie bricht die engen Diskurse der Politik auf, zeigt auf, was hinter den Phrasen steckt; das sei der „Möglichkeitsraum der Literatur“, und der tut sich über die Sprache auf, denn darin ist die Reflexion über die Wirklichkeit inkludiert. Auch die Politik stellt Wirklichkeiten über Sprache her (Martin R. Dean), allerdings fragmentiert; die Literatur stellt die Verbindungen wieder her, wirft einen anderen Blick auf die Gesellschaft.

„Unter dem Druck journalistischer Tagesthemen zählt es zu den wichtigsten Aufgaben des Schriftstellers, Klischees zu widersprechen.“ (Evelyn Schlag)

Vielleicht ist auch die postulierte Trennlinie politisch / privat nur ein Klischee. Dass diese Trennlinie nicht existiert, zeigt Evelyn Schlag in ihrem Roman „Yemen Café“; und was in Konfliktzonen wie dem Jemen überdeutlich wird, gilt freilich auch hier und jetzt. Doch warum ist die Beschreibung fremder Erfahrungen einmal glaubwürdig, dann wieder nicht? Der Schlüsselbegriff hierfür lautet „Empathie“, und die Glaubwürdigkeit, so Evelyn Schlag, liegt in der sprachlichen Gestaltung.

„Nur wenn man die Verstummten hört, wird man eine Sprache finden für die, die keine haben.“ (Martin R. Dean)

Es ist eine Konstante, die sich durch diese 40. Innsbrucker Wochenendgespräche zieht: die Frage der Darstellbarkeit von Erfahrungen. Sprache ist die formale Seite des Denkens, sagt Martin R. Dean, und entscheidend sei, wie „geräumig“ er als Autor sei, denn was er nicht in sich habe, könne er nicht beschreiben. Das schließt die Fähigkeit mit ein, das Andere zu denken, zu fühlen und zu sein. Wichtig sei, fügt Doron Rabinovici an, aus welcher Position man schreibe, wie man mit dem Sprung in ein anderes Subjekt umgehe. Letzten Endes, meint auch er, ist jedes Buch ein Buch über einen selbst.

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Perspektivwechsel auf die „außerliterarische“ Seite des Engagements am Freitagnachmittag: Am Podium sitzen mit Josef Haslinger, Doron Rabinovici und Marlene Streeruwitz eine Autorin und zwei Autoren, die sich gern auch publizistisch und essayistisch zu Wort melden. Gesellschaftskritik ist eine Grundkonstante im Leben und Werk Josef Haslingers, der von seiner Arbeit als PEN-Präsident (2013–2017) erzählt und von der Notwendigkeit, bedrohten Autoren zu helfen. Die Verhältnisse, resümiert er, spitzen sich zu und die Bedrohungen rücken näher.

„Man kann von niemandem verlangen, ein Held zu werden, aber man darf von allen, denen das freie Wort zur Verfügung steht, erwarten, dass sie dessen Grundlagen verteidigen.“ (Josef Haslinger)

Bei uns, sagt Doron Rabinovici, wird im Namen einer freien Demokratie gegen Literatur und Kultur gehetzt (unter dem Deckmantel „des freien Wortes“), auch wenn wir dachten, dass die liberale Demokratie gesichert sei. Aber: „Die Verwechslung von Freiheit und Neoliberalismus lässt uns die Unterdrückungsmechanismen nicht sehen.“ Aufgabe des Schriftstellers, wenn es denn so etwas wie eine „Aufgabe“ überhaupt gebe, sei, gegen (Rollen-)Zuschreibungen anzuschreiben. Literatur heilt keine Wunden, aber sie kann den Finger darauf legen; in ihr kommt das Unerhörte zu Wort, das Unterdrückte, Andere, Fremde.

„Literatur hat nicht unbedingt politisch zu sein, aber sie ist es nun einmal auch dann, wenn sie nicht politisch sein will.“ (Doron Rabinovici)

Marlene Streeruwitz berichtet von Zensurerfahrungen im Literaturbetrieb der siebziger und achtziger Jahre; sie spricht von „verschiedenen Färbungen von Freiheit“ und von der steten Zunahme außerliterarischer Sinneinheiten, die entscheiden. In ihrem Werk gehen Ethik und Ästhetik Hand in Hand, spiegelt die Sprache die notwendige Ethik wider. Ihr gehe es vor allem darum, einen Blick auf die Romanfiguren zu entwickeln, der fürsorglich ist, und das bedeute, einen demokratischen Blick auf die Wirklichkeit zu entwickeln.

„Die vom Roman hergestellte Autonomie der Romanfigur macht die real zu lebende Wirklichkeit … in ihrer Unlebbarkeit sichtbar.“ (Marlene Streeruwitz)

Wie immer, wenn Autorinnen und Autoren ihre Position in der Gesellschaft reflektieren, landet die Diskussion unweigerlich bei den ökonomischen Zwängen, bei den „ganz normalen Unflätigkeiten des Kapitalismus“ (Martin R. Dean). Die Ein- und Ausschlussmechanismen des Betriebs äußern sich nicht mehr in mehr oder weniger offener Zensur, sondern als wirtschaftliche Notwendigkeiten: Wenn Verlage, die unter ökonomischem Druck stehen, Wohlfühlliteratur veröffentlichen, die niemandem wehtut, wenn sie die Trennlinie zwischen anspruchsvoller und trivialer Literatur verwischen (Norbert Gstrein), nehmen sie dafür viel in Kauf. – Auch das ist Politik.

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Das Hinterfragen von Erzählhaltungen, das Ausloten von erzählerischen Möglichkeiten zieht sich durch das Werk von Norbert Gstrein. Seine zentrale Frage im Zusammenhang mit dem Thema Literatur und Politik lautet: „Wie schafft man es, in einem Medium, das ästhetisch funktioniert, moralisch zu werden?“ – Jedenfalls nicht direkt, denn Moral in der Literatur ist gleich Ästhetik, eine moralische Haltung muss immer durch Ästhetik hergestellt werden. Gstrein sieht eine zunehmende Marginalisierung von Literatur in der Gesellschaft und verweist nachdrücklich darauf, dass die beiden Begriffe engagierte Literatur und engagierter Autor nicht deckungsgleich sind. Der Autor, so Gstrein, muss sein Fremd- und Anderssein als Stärke interpretieren.

„Natürlich ist der Schriftsteller ein soziales Wesen, aber wenn es um die Literatur geht, ist er zuallererst Schriftsteller.“ (Norbert Gstrein)

Aber wie kann Literatur politisch sein? Wie sieht eine Literatur aus, die Wirklichkeit kenntlich macht? Antworten auf Fragen wie diese findet Maxi Obexer, und sie findet sie vorrangig am Theater. Dort könne man schneller und direkter reagieren; gefordert sei aber ein anderes Theater, eines der Durchlässigkeit für die Vielen. Obexer erzählt von der Aufführung ihres Stücks „Illegale Helfer“ (das am Samstagabend auszugsweise im ORF Studio 3 zu hören sein wird) und dem Versuch der AfD, die Aufführung zu verhindern: Die Freiheit, etwas sagen zu können, mit engagierten Themen Gehör zu finden, wird schon wieder in Frage gestellt.

„Wir handeln, indem wir im künstlerischen Prozess Entscheidungen treffen, die politisch sind: durch die Auswahl der Themen, die Auswahl der Realitäten, die wir aufsuchen und beleuchten.“ (Maxi Obexer)

Die Diskussionen zeigen einmal mehr die vielen Möglichkeiten der Literatur, auf gesellschaftliche Strömungen zu reagieren, den Finger auf Missstände zu legen und seine Stimme für die Ungehörten zu erheben. Sein Unbehagen formuliert abschließend Lukas Bärfuss, wenn aus diesen Möglichkeiten ein normativer Anspruch zu werden droht. Schnell steht dann die Frage der „Brauchbarkeit“ von Literatur im Raum, und die löst beim streitbaren Schweizer Schriftsteller größtmögliche Irritation aus, was er in seinem provokant zugespitzten Statement publikumswirksam zum Ausdruck bringt.

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Am Samstagnachmittag nehmen traditionell alle gemeinsam auf dem Podium Platz, und Anna Rottensteiner, souveräne Moderatorin der 40. Auflage dieser Veranstaltung, stellt die Frage nach gelesenen Büchern, die für die Autorinnen und Autoren wichtig waren und die sie und ihre Arbeit geprägt haben. Das Sprechen über prägende Bücher schärft selbstredend auch den Blick dafür, welche ästhetischen Verfahren jemand für geeignet hält, Wirklichkeit darzustellen oder, um es mit Marion Poschmann zu sagen, den Dingen auf die Spur zu kommen.

Von den Vorteilen der „Kulturtechnik Literatur“ (Marlene Streeruwitz) ist es nicht weit zur Frage nach deren gesellschaftlicher Funktion und zur immer wieder thematisierten Wechselwirkung des inner- und außerliterarischen Engagements. Doron Rabinovici erinnert daran, dass man nicht Autor sein muss, um sich politisch zu engagieren, dass Engagement kein Vorrecht der Kunst ist. Wichtig sei ihm als Autor, das Ungesagte zur Sprache zu bringen, und das sei dann eben auch politisch.

Keine Aufgabe also für die Literatur, aber viele Möglichkeiten, so könnte man die 40. Innsbrucker Wochenendgespräche kurz zusammenfassen. Ein Künstler, der sich ernst nimmt, so das Resümee von Martin R. Dean, bewege sich durch die vertiefte Beschäftigung mit seinem Gegenstand ohnehin weg vom Klischee. Und genau darum gehe es: durch die ästhetische Arbeit ins Wahrere zu gelangen.

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