Birke, die in einem verlassenen Raum aus dem Boden wächst. © Andrej Krementschouk

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Die 37. Innsbrucker Wochenendgespräche - Ein Stimmungsbericht

Von Joe Rabl

"Erzählbruchgebiet und gelebte Utopie"

"Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod." Peter Stephan Jungk, Moderator der 37. Innsbrucker Wochenendgespräche, eröffnet mit einem Zitat aus dem Statement von Robert Kleindienst und lässt dem weitere folgen, unter anderem von Jorge Luis Borges, für den der Traum "die älteste Kunst" war, und von Jean Paul, der den Traum als "unwillkürliche Dichtkunst" bezeichnete. Für Fellini bedeutete Träumen nächtliche Arbeit, aber er freute sich aufs Einschlafen: "Die Vorstellung begann, sobald ich die Augen schloss."

Der Träumer als Autor und der Autor, der aus dem Reichtum, der visionären Kraft der Träume schöpft: Nutzen das die Autorinnen und Autoren konkret für ihre Arbeit?

Judith Kuckart spricht vom "Drehbuch der Träume" und davon, dass es ihr persönlicher Traum wäre, einen Film zu machen; fasziniert von den technischen und gestalterischen Möglichkeiten des Films, insbesondere der Montage, mit der sich die Mechanismen des Unbewussten abbilden ließen. "Film und Traum sind Verwandte", sagt sie und verweist auf die Analogie zum Traum: "Wenn man aus einem guten Film kommt, erinnert man sich oft nicht an die Handlung, aber man erinnert sich genau an das Gefühl, das man beim Schauen gehabt hat."

Das heißt aber nicht, dass die Autoren konkrete Traumtagebücher umsetzen. Eher ist es so, dass sie Traumversatzstücke in ihre Texte übernehmen; Robert Kleindienst meint, dass rund fünfzig Prozent seiner Texte von Traumbildern leben. Für Josef Oberhollenzer ist das Traumgebiet "Erzählbruchgebiet", aus dem er schöpft. Insbesondere während der Arbeit am "Traumklauber" machte er sich Notizen; Träume, auch solche aus der Kindheit, waren ihm oft Ausgangspunkt seiner Bücher.

So auch Peter Stephan Jungk, der sich als junger Mensch ein Jahr lang um vier Uhr in der Früh weckte, um seine Träume auf Band zu sprechen, weil das der Zeitpunkt war, zu dem er sich an sie erinnerte. Sein Roman "Die Reise über den Hudson" geht auf so ein Traumbild zurück: ein monströser Körper, der unter einer Brücke liegt. Im Zustand kurz vor dem Aufwachen, dem "Dämmern zwischen den Welten", war dieses Traumbild plötzlich da und hat ihn herausgefordert, einen Roman über seinen verstorbenen Vater zu schreiben.

Die Frage, ob die Autoren auch Albträume haben, will Judith Kuckart nicht beantworten, denn "Träume sind das Intimste, das man einem schenken kann". Ihr geht es mehr um die Frage nach den "konkreten Utopien" im realen Leben, die Tagträume, das Prinzip Hoffnung, wie es Ernst Bloch formuliert hat. Die "gelebte Utopie", der Traum von einem anderen Leben, geht aber nicht immer in Erfüllung. Josef Oberhollenzer weiß als italienischer Staatsbürger ein Lied davon zu singen, wie ihn die politische Realität immer wieder aus allen Träumen gebeutelt hat.

Der Film als jene Kunst, die dem Traum am nächsten kommt (Luigi Malerba) – Jungk erinnert sich an "Inseption", einen großartigen Film aus mehreren ineinander verschachtelten Träumen –, ist immer wieder Anlass, darüber nachzudenken, ob das auch in der Literatur gelingen kann. Für Ralph Dutli ist der Film ein Kompromiss, weil die Unmittelbarkeit verloren gehe; das funktioniert für ihn nur in der Literatur. Schreiben ist Übersetzen von Traumbildern, wendet Nico Bleutge ein, Sprache arbeitet aber mit einem abstrakten Zeichensystem und habe schon deshalb ein viel größeres Problem, den Traum zu fassen.

Wenn es überhaupt einem Autor gelungen sei, die Atmosphäre des Traums in der Literatur darzustellen, dann Kafka, bestätigt Jungk. Meisterhaft daran sei auch, dass Kafka dies in einer einfachen, reduzierten Sprache zustande gebracht habe.

"Die Sprache macht mich träumen"

Sich seine Lebensträume verwirklichen: Auch darum geht es in Birgit Unterholzners neuem Buch "Für euch, die ihr träumt". Ihr Eingangs-Statement ist ein feuriges Plädoyer für die gesellschaftliche Kraft der Träume und dafür, sich seine Träume nicht nehmen zu lassen.

Peter Truschner beschreibt seine Bücher "Schlangenkind" und "Das fünfunddreißigste Jahr" als Teil eines auf Lebenszeit angelegten Projekts, als eine Art Autofiktion, in der er darzustellen versucht, wie sich das reale Leben mit dem geträumten Leben, mit den Wünschen und Projektionen mischt; was man sich einmal erträumt hat und was davon real geworden ist. In "Die Träumer", seinem zweiten Roman, stehen die Wünsche und Projektionen in der Ehe oder einer Beziehung im Mittelpunkt und die Auswirkungen der gegenseitigen Vorstellungen.

Der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli beschreibt in "Soutines letzte Fahrt", seinem ersten Roman, eine von Drogen in ein spezifisches Licht getauchte Fahrt quer durch das besetzte Frankreich des Jahres 1943; eine Mischung aus Traumbildern und Rauschgiftimpressionen. Für Peter Stephan Jungk ein Buch wie ein langer Traum, aus dem man gerädert erwacht – wie die Traumstimmung nach intensiven Träumen, die man in den Tag hinein mitnimmt. Interessant dabei auch die Traumnähe des Rauschzustands, die einen offener und durchlässiger macht – Traum und Drogen, ein unerschöpfliches Thema.

"Pflichtlektüre" zum Thema Traum, so Ekkehard Hey-Ehrl von der Buchhandlung liber wiederin, sei immer noch Sigmund Freuds "Traumdeutung". Freud bezeichnete die Traumdeutung als "Via Regia zur Kenntnis des Unbewussten"; die Lektüre seiner "Traumdeutung" war wichtig für zeitgenössische Künstler. Die gegenwärtigen Autoren sind sich da nicht so einig. Für Peter Stephan Jungk öffnet die Lektüre Tore für die Wahrnehmung der eigenen Träume. Ralph Dutli ist die "Traumdeutung" zu simpel, er findet Träume in literarischen Texten besser aufbewahrt, weil diese viel komplexer sind; "die Sprache macht mich träumen", sagt der "Sprachjunkie" Ralph Dutli: "Wenn ich schreibe, träume ich also gleichsam, ich öffne behutsam die Schleusenräume der Sprache, gleite durch sie hindurch, lasse mich von Stoff tragen. Oder träumen, ja: der Stoff träumt mich, er hat auf mich gewartet, also schulde ich ihm etwas, das ich mit der Feder oder Tastatur liebend gern begleichen will."

Hitzig wird die Debatte zwischendurch, als das Gespräch eine Richtung nimmt, in der Träume, Wünsche, Projektionen, Vorstellungen etwas undifferenziert vermengt werden. Es sei eben zu unterscheiden zwischen dem "Prinzip Hoffnung", dem "Noch-Nicht" Ernst Blochs auf der einen und echten Träumen auf der anderen Seite.

Das Schlusswort gehört wieder der Literatur: Der Träumer ist ein Dichter, wusste schon Erich Fromm – so Peter Stephan Jungk, der Künstler aber "ist schöpferisch, obwohl er wacht".

Vom Dialog für eine Person und der konzentrierten Euphorie beim Schreiben

"Auch die Schlafenden verrichten Arbeit und wirken mit an dem, was im Weltall geschieht." Peter Stephan Jungk beginnt auch den zweiten Tag mit einem Zitat, diesmal von Heraklit, und dem Eindruck, dass Lina aus Andrea Winklers "König, Hofnarr und Volk" eine geradezu fortgeschrittene Träumerin sei. Zu Margret Kreidls "Alphabet der Träume" merkt er an, dass man nach der Lektüre Lust bekomme, seine eigenen Träume aufzuschreiben.

Margret Kreidl selbst eröffnet mit "41 Traumsätzen", einer Kleinstpoetik des Träumens ("Der Traum ist ein Dialog für eine Person" … "Träumen heißt verdichten"), und erzählt von ihrem Projekt, bei dem zwei Wochen lang 33 Leintücher mit Traumsätzen aus ihrem Manuskript aus Grazer Fenstern hingen. Wer wollte, konnte so "einen Traum hüten"; was nicht ganz ohne Irritation der Bevölkerung vor sich ging.

Nico Bleutge, den schon immer die Übergänge interessierten, erzählt von den "glücklichsten Momenten des Schreibens", in denen sich eine Art Zwischenzustand einstellt, eine "konzentrierte Euphorie" im Schreibprozess. Mit dem Hinweis auf diese "gesteigerte Form der Aufmerksamkeit" lenkt er die Diskussion im Verbund mit Andrea Winkler und Margret Kreidl auf die Produktionsbedingungen von Literatur, auf den Versuch, "das Traumartige gerade noch zu haschen" und in die Literatur hinüberzuretten.

Die Vermutung, dass diese Abkürzungen, wie Bleutge sie nennt, in der Lyrik leichter möglich seien, teilen nicht alle. Andrea Winkler verteidigt die Prosa und weist darauf hin, dass es für sie eher eine Frage des Schreibprozesses, der Schreibhaltung ist; es gebe auch in der Prosa Formen der Konzentration, die mit Träumen zu tun haben, die der Traumlogik nahe kommen, auch wenn dies keine bewusste Konzentration sei. Für Kreidl geht es um die Auflösung von Dualitäten, was auch für sie in der Lyrik schneller möglich ist; denkbar sei es aber auch, in der Prosa die "Traumform zu schreiben" (im Gegensatz zur "Vernunftform").

Aber schöpfen die Autorinnen und Autoren direkt aus ihren Träumen? Andrea Winkler setzt Träume nicht unmittelbar in Texte um; wichtig ist ihr, die Traumspur zu verfolgen. Der Traum ist für sie eine Form von Dichtung; und das fließt in die Arbeit ein, aber in einer stark transformierten Art und Weise; eine Konzentration wie in einem sehr bewussten Wachtraum; in diesen Zustand zu kommen, sieht sie als eine wichtige Voraussetzung fürs Schreiben.

Auch bei Nico Bleutge fließen Träume auf Umwegen in die Arbeit ein; er interessiert sich für die "Essenz des Traumartigen", die es zu fassen gilt, die schwankenden Momente, die er in der Lyrik zu erzeugen versucht; diese gefühlte Atmosphäre herzustellen, ist für ihn ein Übersetzungsprozess. Eine Form des Begreifen-Wollens, wie es Andrea Winkler nennt, ein Verstehen, das Räume öffnet, das nicht festschreibt und vereinnahmt; die Frage sei dann, was von der Qualität der Träume lasse sich "übersetzen"?

Unterschiedliche Medien leisten das auf unterschiedliche Art und Weise; und dass die bildende Kunst da einen Vorteil habe, wie Jungk meint, sieht Bleutge nicht als gegeben. Er weist auch auf die verschiedenen Formen der Erkenntnis hin; Literatur habe eine andere Form von Erkenntnis als etwa die Naturwissenschaften; die Stärke der Literatur sei die Möglichkeit, Räume zu öffnen und das Changierende zuzulassen. Eine Gleichzeitigkeit herzustellen, so wie es Kafka gemacht hat, der immer wieder als leuchtendes Beispiel ins Treffen geführt wird.

Peter Stephan Jungk hat einen schier endlosen Zitatenschatz mitgebracht und weiß immer das richtige einzustreuen, diesmal einen wunderbaren Satz von Friedrich Hebbel: "Der Traum ist der beste Beweis, dass wir nicht so fest in unserer Haut eingeschlossen sind, als es scheint."

Nicht so fest eingeschlossen in unserer Haut – das kann auch bedeuten, dass man sich im Traum als ein anderer gespiegelt erlebt, weil der Traum die Identität auffächert und eine Vielfalt von Ichs lesbar macht, so Andrea Winkler. Die Vorstellung, eine feste Identität zu haben, ist laut Bleutge ohnehin ein Konstrukt; im Traum wird dieses changierende Ich erfahrbar, was er in den Gedichten spürbar zu machen versucht. Eigentlich sei dieser Schwebezustand, der im Traum herrscht, nicht fassbar; aber es sei die Qualität einer bestimmten Art von Literatur, das zu leisten.

Für Margret Kreidl hat der Traum zudem das Potenzial, den Unsinn zuzulassen, fern der Tageslogik und der Vernunft. Das ist durchaus politisch gemeint; das Spektrum reiche in der Gesellschaft von den Unzufriedenen auf der Plaza del Mayo ("Wenn ihr uns nicht träumen lässt, lassen wir euch nicht schlafen!") bis zu Margaret Thatchers "There is no alternative". Dass es mehr als eine Alternative gibt, zeigt nicht zuletzt die Literatur.

"Träumen heißt verdichten"

Kann es sein, dass wir die Wirklichkeit träumen und dass das eigentliche Leben die Träume sind? Mit dieser Frage eröffnet Peter Stephan Jungk die Schlussrunde, in der erstmals alle Autorinnen und Autoren am Podium Platz nehmen. Für Ralph Dutli ist der Traum nur ein Bild für den Dialog mit der eigenen Seele; der Autor lebe in Symbiose mit seinen Träumen.

Dann geht es noch einmal um die Frage, wie es gelingt, den Funken überspringen zu lassen. Judith Kuckart betont, dass viel Handwerk dazugehöre und dass man sich überraschen lassen müsse; dann entstehen die Momente, die überzeugen, in denen der Funke überspringt; aber dazu muss man auch loslassen können, dass die innere Bewegung möglich wird. Die Qualität der Traumform übersetzen, die Atmosphäre des Traums in die Sprache transformieren: das eben sei es, wenn man, wie schon erwähnt, aus einem guten Film die Atmosphäre mitnimmt und nicht unbedingt die Handlung.

Und wenn Peter Stephan Jungk eines mitnimmt aus diesen Gesprächen, dann die Überzeugung, dass es eine große Nähe von Traum und Dichtung gibt. Ralph Dutli formuliert es bildreicher: Die Literatur ist für ihn das letzte Reservat der Traumwelten, das Korrektiv der logischen Welt. Und dass wir dieses Korrektiv dringend benötigen, das haben die 37. Innsbrucker Wochenendgespräche wieder einmal gezeigt.

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